Krankheit Störung Phänotyp

8. Februar 2010

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Krankheit – Störung – Phänotyp
Zum Krankheitswert der androgenetischen Alopezie des Mannes

© PD Dr. Ronald Henss

Der erblich bedingte Haarausfall des Mannes (androgenetische Alopezie, AGA) wird gewöhnlich als Haarkrankheit oder zumindest als Haarwuchsstörung bezeichnet. Ich selbst habe ihn zwar einmal in Anlehnung an die gängige Terminologie als „benign disease“ bezeichnet (Henss, 2001), aber korrekterweise sollte die androgenetische Alopezie des Mannes auf keinen Fall als „Krankheit“ bezeichnet werden, ja noch nicht einmal als „Störung“.

Die androgenetische Alopezie

  • hat zweifelsfrei biologische Ursachen
  • tut nicht weh
  • ist nicht ansteckend
  • verursacht keine Krankheiten (dieser Punkt muss modifiziert und näher erläutert werden)
  • ist ein sehr weit verbreiteter Phänotyp und ist – zumindest bei Weißen und im entsprechenden Alter – eher als der Normalfall der äußeren Erscheinung einzustufen
  • wenn sie zum Problem wird – und dies ist recht häufig der Fall –, dann hat dies psychologische Ursachen

Der Punkt „die androgenetische Alopezie verursacht keine Krankheiten“ muss modifiziert und eingehender diskutiert werden. In der Tat treten bestimmte Formen des Hautkrebses auf dem Oberkopf nur bei Glatzenträgern auf (Quelle). Hier entfällt infolge des Haarverlusts der Schutz gegen ultraviolette Strahlung, so dass Hautkrebs entstehen kann. Dies alleine genügt jedoch nicht, um die androgenetische Alopezie als Krankheit einzustufen. Durch die weitgehende Reduktion des Haarkleides ist der Mensch fast am ganzen Körper unbehaart, so dass der Schutz gegen UV-Strahlen „auf breiter Front“ verlorengegangen ist und Hautkrebs am ganzen Körper auftreten kann. Niemand käme auf die Idee, Mensch-Sein aufgrund der Reduktion des Haarkleides als eine Krankheit zu bezeichnen. Häufig wird auch diskutiert, ob die androgenetische Alopezie mit anderen Krankheiten einhergeht und manche sind der Auffassung, dass Glatzenträger eine geringere Lebenserwartung haben als Männer mit vollem Haar. Die Datenlage zur Lebenserwartung ist umstritten. Aber selbst wenn Glatzenträger tatsächlich eine geringere Lebenserwartung hätten, wäre es nicht gerechtfertigt, die androgentische Alopezie alleine deshalb als Krankheit zu bezeichnen. Überall auf der Welt haben Männer eine deutlich geringere Lebenserwartung als Frauen und Männlich-Sein ist zweifellos ein sehr starker Risikofaktor im Hinblick auf die Lebenserwartung – aber kein Mensch käme auf die Idee, Männlich-Sein deshalb als Krankheit zu bezeichnen. Nahezu jede phänotypische Variante ist mit irgendwelchen Krankheiten korreliert. Aber eine Korrelation alleine ist nicht hinreichend, um die betreffende Variante als Krankheit einzustufen.

Meines Erachtens ist die androgenetische Alopezie noch nicht einmal als eine Störung des Haarwuchses anzusehen. Sie ist vielmehr eine genetische gesteuerte streng koordinierte Reduktion des Haarwachstums, die einen charakteristischen Verlauf aufweist und zu einem klar umschriebenen Muster führt. Bei Weißen ist die Verbreitung (Prävalenz) so hoch, dass etwa ab dem fünfzigsten Lebensjahr mehr als die Hälfte der Männer einen deutlich sichtbaren Haarverlust aufweisen. Der Phänotyp Männerglatze ist weltweit gesehen sehr viel stärker verbreitet als blondes oder rotes Haar. Der genetisch gesteuerte systematische Verlauf deutet darauf hin, dass dieses Charakteristikum im Verlauf der Evolution bedeutsame Funktionen erfüllte. Zur Evolution der Männerglatze gibt es zwar verschiedene Hypothesen, aber keine davon (und auch keine andere) lässt sich in einem strengen Sinne beweisen. In diesem Punkt verhält es sich mit der androgenetischen Alopezie ebenso wie mit der Reduktion der Körperbehaarung insgesamt. Weder das eine noch das andere können sinnvoll als Störung aufgefasst werden.

Sicher ist auf jeden Fall: Die androgenetische Alopezie hat biologische Ursachen.
Sicher ist auch: Egal aus welchen Gründen sich die androgenetische Alopezie im Verlauf der Evolution entwickelt hat – das damit einhergehende Erscheinungsbild wird von den Menschen seit Jahrtausenden negativ bewertet und der Verlust des Haupthaares ist für zahlreiche Männer eine psychische Belastung.

Auch wenn die androgenetische Alopezie keine Krankheit ist und noch nicht einmal als Störung aufgefasst werden sollte, macht es Sinn, dass sie in das Fachgebiet der Dermatologie – also einer medizinischen Disziplin – fällt: Da der erblich bedingte Haarausfall biologische Ursachen hat, ist eine effektive Therapie nur mit medizinischen Mitteln möglich.

Abschließend noch ein Zitat: Die erblich bedingte Glatzenbildung (androgenetische Alopezie) des Mannes ist keine Krankheit, sondern eine Variante des Phänotyps (Wolff & Kunte, 1999, S.70).

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Literatur
Henss, R. (2001). Social perceptions of male pattern baldness. A review. Psychosomatics + Dermatology, 2, 63-71.
Wolff, H. & Kunte, C. (1999). Diagnostik und Therapie von Haarerkrankungen. Bremen: UNI-MED Verlag.

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